Menschen und Masken

Never Die YoungBeim Filmfestival „Discovery Zone“ zählte er letztes Jahr zu den Publikums- und Kritikerlieblingen. Dabei ist „Never Die Young“ kein Dokumentarfilm wie jeder andere. Der offizielle Kinostart von Pol Cruchtens sehr persönlicher Auseinandersetzung mit der Drogenproblematik bietet die Gelegenheit, sich davon zu überzeugen.

Ungewöhnlich ist an Pol Cruchtens Dokumentarfilm – dem ersten, seit er Anfang der 90er Jahre seine Filmkarriere begann und gleich mit seinem Debütspielfilm „Hochzäitsnuecht“ 1992 eine Einladung nach Cannes verbuchen konnte, allein schon das Sujet. Es ist die authentische Geschichte eines jungen Mannes aus dem Süden Luxemburgs, der in die Abhängigkeit von Drogen gerät. Von der Polizei festgenommen, riskiert er einen waghalsigen Sprung aus dem Fenster, um sich in Sicherheit zu bringen – nicht ahnend, dass dieses höher als gedacht über dem Erdboden liegt. Querschnittsgelähmt wird er von nun an bleiben, von den Drogen dennoch nicht lassend. Eine Story, die den Zuschauer betroffen macht, auch weil hinter der tragischen Vita einer Person die Zustandsbeschreibung einer tiefbürgerlichen Gesellschaft zu erkennen ist. Ihn überrascht aber auch die Form, denn „Never Die Young“ fehlt eigentlich das, was einen solchen Dokumentarfilm normalerweise hätte prägen müssen: Interviews von Betroffenen, Familienmitgliedern und vor allem so genannter „Experten“ aus Sozialarbeit und Justiz, vor Bücherregalen, in Büros oder Wohnstuben in Szene gesetzt. Stattdessen ist hier alles inszeniert, bildlich sowohl wie akustisch.

Die Anonymität der Städte

Pol never die young
Ganz ohne Maske: Regisseur Pol Cruchten posiert mit einem der Requisiten, die die Figuren in „Never Die Young“ tragen. Foto: Serge Waldbillig 

Alle Personen, die im Film zu sehen sind, tragen Tiermasken. Nicht, um ihre Identität zu verbergen – es sind Darsteller, keine aussagenden Zeugen –, sondern als Verfremdungselement. „Mir ging es darum, die Anonymität luxemburgischer Kleinstädte zu schildern, in denen der Film spielt und die Hauptfigur ihre Drogenabhängigkeit entwickelt“, betont Regisseur Pol Cruchten, der auch das Drehbuch geschrieben und den Film über seine Produktionsgesellschaft Red Lion entwickelt hat.Die Idee der Masken tragenden Figuren nimmt Cruchten nicht für sich in Anspruch: „Diese hatte der US-amerikanische Fotograf Ralph Eugene Meatyard bereits vor einem halben Jahrhundert – er fotografierte seine Familie hinter Masken. Meatyard verstand sich selbst als Amateur, heute hängen seine Aufnahmen im MoMA in New York“, erzählt er. Dem Regisseur gefiel die Idee, wie durch Masken die Idee der Einsamkeit unterstrichen werden kann. „Ich wollte mich bei diesem Film ganz von meiner Intuition leiten lassen, ganz so etwa – ohne, dass ich mit ihm vergleichen möchte – wie es der große niederländische Dokumentarfilmer Joris Ivens in seinem Werk getan hat.“ Auf gängige Darstellungsformen dagegen verzichtete er, „etwa körnige, in tristem Grau gehaltene Dokumentaraufnahmen von Junkies im hauptstädtischen Bahnhofsviertel, wie man sie in einer Fernsehreportage finden würde.“ Viele Ideen entstanden vor den eigentlichen Dreharbeiten, „wie bei einem Spielfilm“, wie Cruchten betont.

Dylan, Kehlmann, Hampton

„Die Wahl der Drehorte war mir wichtig, aber auch etwa die Lichtführung.“ Mit dem Sinn für die Ästhetik der Aufnahmen wollte der Regisseur „die Gefahr eines Miserabilismus bannen, der verletzend für die Hauptfigur gewesen wäre“. Cruchten kannte diese seit langem und hatte seit Jahren viele Unterredungen mit ihr, was in den Film einfloss, wenngleich dieser ohne direkte Interviews auskommt. Das Konzept funktionierte von Anfang an und stieß sogar im Ausland auf Begeisterung. Song-Legende Bob Dylan erlaubte es der Produktionsgesellschaft, sein legendäres „Blowin’ in the Wind“ im Soundtrack zu benutzen, ohne auf die im Pop-Geschäft üblichen extrem hohen Nutzungsrechte zu bestehen. Der im Original französische Kommentar wurde von den Schauspielern Robinson Stévenin und Laurence Côte gesprochen. Cruchten gelang es aber auch, den Schriftsteller Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“) für die Übersetzung der deutschen Fassung und den renommierten Drehbuchautor Christopher Hampton („Dangerous Liaisons“) für die englischsprachige Version zu gewinnen. „Die deutsche Version, mit den Sprechern August Diehl und Sophie Rois, ist bereits fertig gestellt und ist nun neben der französischen Version im Kino zu sehen“, freut er sich.

Zurück nach Tschernobyl

Für Pol Cruchten ist „Never Die Young“ bereits ein abgeschlossenes Kapitel. Auf seinen nächsten Dokumentarfilm darf man aber jetzt schon gespannt sein. „La supplication“, wieder nach einem eigenen Drehbuch in Szene gesetzt, basiert auf dem Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ der diesjährigen Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Auch die Bestandsaufnahme des Lebens in der kontaminierten Zone Jahre nach der Katastrophe und die Erinnerung an diese wird keine übliche Dokumentation sein. Vorbild ist erneut ein cineastisches: das Werk des großen russischen Regisseurs Andrei Tarkowski. Die Szenen zu „La supplication“ wurden vor kurzem in der Ukraine gedreht. Dem Spielfilm hat der Regisseur dennoch nicht den Rücken gedreht. Im Herbst bzw. Anfang 2015 kommt „Les brigands“ in die Kinos, eine freie Verfilmung von Schillers „Die Räuber“, bei dem Cruchten zusammen mit Frank Hoffmann Regie geführt hat. Doch auch die Produzententätigkeit ist für ihn weit mehr als ein kommerzielles Standbein. Die Unterstützung debütierender luxemburgischer Filmschaffender wie Govinda Van Maele, Luc Feit, Jacques Molitor oder Laura Schroeder ist eine Leistung, auf die er nicht weniger stolz ist als auf sein eigenes filmisches Werk. Immerhin wurde „Never Die Young“ (beim letzten „Lëtzebuerger Filmpräis“ als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet) vor kurzem von der „Commission nationale de sélection pour les Oscar“ für die Vorauswahl als „Bester nicht-englischsprachiger Film“ vorgeschlagen und kann sich nun Hoffnungen auf eine offizielle Nominierung für einen „Academy Award“ machen.

Source: Jean-Louis Scheffen télécran

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